Bereit für was Neues? Also, eigentlich nicht neu, eher uralt. Aber äußerst ungewöhnlich. Selten. Besonders. Und wild! Sprechen wir mal über Wilde Biere. Ja, wild, wie unbändig, ungezügelt, überraschend – wild halt. Biere, bei denen ein wilder Mix aus Mikroorganismen seine Spuren hinterlässt. Wir glauben nämlich: Mischfermentation und spontan vergorene Biere werden im Sommer 2018 groß kommen!
„Für mich sind Wilde Biere solche, die gemischt vergoren sind. Je nach Rezeptur und Dauer der Reifung können sie dabei eine ganz eigene Säure entwickeln.“ Das sagt der münsterländer Brauer und Landwirt Jan Kemker. Und der muss das irgendwie auch wissen, denn immerhin könnte er als eine Art Wilde-Biere-Pionier durchgehen. Einer, der mit seinen Bieren „Mia“, „Stadt Land Bier“ und „Dubbel Porse“ im vergangenen Jahr für ein so großes Wow-Gefühl und ein erfreutes Staunen gesorgt hat: Ach, so kann Bier also auch schmecken!? Kurios! Zuletzt haben Mia und Co. so viele Yeah-bitte-mehr-davon-Fans gefunden, die große Lust auf Wilde Biere à la Kemker hatten, dass der Brauer mit seiner Brauerei nun gerade auf einen Bauernhof in der Nähe von Münster gezogen ist, um dort noch viel mehr wilde Sachen machen zu können. [Anm. der Red.: Für den Umbau sucht er noch Crowdfunding-Unterstützer]
Was sind Wilde Biere?
Wilde Biere werden gemischt vergoren. Sie enthalten neben der klassischen Brauhefe Saccharomyces Cerevisiae auch wilde Hefe, wie Brettanomyces, und Milchsäurebakterien, wie Lactobacillus und Pediococcus. Hin und wieder findet man in Wilden Bieren auch ein wahres Sammelsurium an Mikroorganismen, lauter -occus und -illus und -yces und und und.
Einige Brauer und Brauerinnen sammeln wilde Mikroorganismen selbst in der Natur. Gerade Blüten oder Früchte eignen sich hervorragend als Organismenträger. Aber trotzdem darf man sich von dem Ausdruck „wilde Hefe“ nicht in die Irre führen lassen. Der Begriff ist aus der traditionellen Verwendung entstanden – als die Hefen tatsächlich nur ganz wild aus der Umgebung in den offen gelagerten Sud gelangt sind, als solche wilden Hefen fester Bestandteil jeder Brauerei waren. Inzwischen bieten fast alle Hefebanken die ursprünglich wilden Hefen auch in domestizierter Form an. Sprich: Brauer und Brauerinnen, die Lust haben, Wilde Biere zu brauen, müssen nicht mit Wattestäbchen und Petrischalen über Wiesen hüpfen und durch Keller kriechen, sie können wilde Hefesorten auch ganz einfach über das Internet bestellen.
Königsklasse der Wilden Biere: Spontangärung
Tun sie das nicht und setzen sie auf „the old way“, die echten wilden Hefen, die ganz wild ihren Weg ins Bier suchen, ohne dass der Brauer bewusst Hefe zur Würze kippt, spricht man von Spontangärung. Spontan vergorene Biere sind die Königsklasse der Wilden Biere – und die vielleicht ursprünglichste Form Bier zu brauen. Traditionell wird, um die Spontangärung in Gang zu setzen, ein so genanntes Kühlschiff verwendet. Die heiße Bierwürze wird nach dem Kochen des Hopfens in das Kühlschiff gepumpt – eine flache, große Wanne, in der Regel im Obergeschoss des Sudhauses, in dem sich der Sud weit verteilt, und dort über Nacht abkühlt. Über die Luft und das Kondensat der Dachbalken gelangen Hefen und Bakterien in den Sud, und beginnen – ganz spontan und ohne menschliches Zutun – die Würze zu vergären. Besonders beeindruckend lässt sich das Prinzip „Kühlschiff“ auf den Dachböden traditioneller belgischer Brauereien beobachten: Was da alles an den Decken hängt! Moos, Spinnweben, modriges Holz – was wie das Horrorszenario jedes Hygiene-Verantwortlichen moderner Großbrauereien klingt, ist das USP dieser Brauereien. Denn genau da leben jene wilden Hefen, die den Geschmack der Biere dieses Hauses ausmachen. In vielen Brauereien seit Jahrhunderten.
Was zeichnet Wilde Biere aus?
Zunächst der während der Lagerung entstehende säuerliche Geschmack. Dieser entsteht in erster Linie durch die Milchsäurebakterien und die Gärung der wilden Hefe. „Aber auch die S. cerevisiae sorgt für einen pH-Sturz beim Angären. Dieser wird für den Menschen aber noch nicht säuerlich wahrgenommen“, fügt Kemker hinzu. Die Milchsäurebakterien haben noch eine weitere entscheidende Funktion, gerade in wilden Fruchtbieren: „Milchsäurebakterien verstoffwechseln beispielsweise die harsche Fruchtsäure in Milchsäure und machen das Bier milder“, erklärt Kemker. Bei der Verwendung der „Brett“ ist eine Menge handwerkliches Geschick gefragt. „Brett produziert im oxidativen Umfeld Essigsäure. Daher ist darauf zu achten, dass man während der Lagerung nicht zu viel Sauerstoff einbringt“, so Kemker.
Damit kommen wir zum zweiten typischen Charakteristikum: Die Lagerung. Wilde Biere reifen zunächst monatelang, manchmal über Jahre in der Brauerei, bis sie schließlich abgefüllt werden. Und selbst dann ist der Reifeprozess noch längst nicht abgeschlossen. Typisch für Wilde Biere ist die anschließende Flaschengärung. Wilde Biere sind wesentlich länger haltbar als andere Biere, verändern aber mit der Zeit ihren Geschmack. Grund für die lange Haltbarkeit sind die Brettanomyces-Hefen und Milchsäurebakterien, die in der Flasche lebendig bleiben und weiterarbeiten.
Der Prototyp der Wilden Biere: Lambic
Wenn es einen Bierstil gibt, den die Belgier besser können, als alle Anderen, dann ist es das Lambic. Ein Wildes Bier, dass diese Bezeichnung wie kein anderes verdient – und das vielleicht am schwierigsten herzustellende Bier der Welt! Das Lambic ist aber nicht nur ein Bierstil, sondern vielmehr die Mutter weiterer Wilder Biere: Die beiden Klassiker, die man inzwischen in allen gut sortierten Bierhandlungen bekommt und vom Lambic „abstammen“ sind Oude Geuze (flämisch; französisch: Gueuze) und Oude Kriek. Oude Geuze ist vereinfacht eine Mischung aus ein-, zwei und dreijährigem Lambic. Oude Kriek ist ein mindestens einjähriges Lambic, versetzt mit ganzen Sauerkirschen.
Sind alle Wilden Biere sauer?
Als Synonym für Wilde Biere wird häufig Sauerbier verwendet. Allerdings ist der Begriff sehr missverständlich. Einige Biere, die üblicherweise als Sauerbier bezeichnet werden, sind direkt nach dem Brauvorgang gar nicht sauer. Fruchtbiere zum Beispiel, die häufig als Sauerbier bezeichnet werden, sind direkt nach dem Brauvorgang sehr süß. Die Säure entsteht erst durch die Lagerung. „Säure entwickelt sich erst mit der Zeit“, sagt Kemker. „Ein Kettlesour, produziert innerhalb von einer Woche, würde ich Sauerbier nennen. Aber frag mal einen Lambicbrauer, ob sein Bier ein Sauerbier ist. Als Antwort bekommst du, dass Lambic eben Lambic ist. Oder: Lambic ist Leben.“ Korrekter ist es also so: Gemischt vergorene Biere haben alle ihre eigenen, historischen Wurzeln. Man kann sie unterschiedlichen Bierstilen zuordnen.
Warum verdienen Wilde Biere mehr Liebe?
Während in Ländern, wie beispielsweise Belgien, die Wilden Biere schon traditionsbedingt viel beliebter sind und in den USA die gesamte Craft Beer Industrie der im deutschsprachigen Raum um Längen voraus ist, wissen hierzulande die meisten Biertrinker nur sehr wenig über Wilde Biere. Sie verbinden deren ungewöhnlichen Geschmack häufig nicht mit Bier. Kein Wunder, denn die Wilden Biere sind oft sehr trocken und bringen eine starke Säure mit – fast schon weinartig. Daneben bieten Wilde Biere aber auch eine spannende Aromenvielfalt: Ananas, Kirsche, Heu – oder auch Leder und „Pferdedecke“ (ein Begriff, mit dem ein etwas animalisches Aroma gemeint ist. Kurz gesagt: ein bisschen wie Schweiß. Aber der von der guten, ehrlichen Sorte).
In den USA erfreuen sich Wilde Biere ebenfalls großer Beliebtheit. „Die Amerikaner lieben Biere, die extrem anstrengend sind“, sagt Kemker lachend und verdeutlicht: „Da ist auch eine ganz andere Experimentierbereitschaft vorhanden, nicht nur auf Seiten der Brauereien, sondern auch auf Seiten der Konsumenten. Und natürlich gibt es dort auch ein ganz anderes Zahlungsniveau.“ Denn klar ist auch: Schon allein wegen der langen Lagerungszeit müssen Wilde Biere ihren Preis haben.
Urban Wild: Der Berliner und seine Weisse
Die Berliner Weisse ist, neben der Gose, das wohl bekannteste Wilde Bier aus Deutschland. Bis vor Kurzem noch ließ ihr Ruf zu wünschen übrig – es ging zeitweise soweit, dass sie fast komplett vom Markt verschwand. Gott sei Dank ist die Original Berliner Weisse inzwischen für einige Brauer und Brauerinnen, allen voran Oli Lemke, Ulrike Genz, Michael Schwab und Andreas Bogk, aber wieder eine Herzensangelegenheit geworden. Denn ein derart komplexes Bier verdient eine größere Wertschätzung.
Lemke und einer seiner Brauer, Weisse-Experte Sebastian Oberwalder, forschen ganz unwild, eher sehr kultiviert, in ihrem Labor – mit Erfolg – an neuen Rezepten für Deutschlands alte Wilde. „Die Idee ist eigentlich schon vor ein paar Jahren mit Dr. Zepf von Doemens entstanden“, erklärt Lemke. Weiter geforscht haben die Berliner dann mit Prof. Dr. Methner von der TU Berlin in Sachen Mikroorganismen-Mix: „In Form von Diplomarbeiten entstanden so die ersten Weisse-Versuche, unter anderem mit Ulrike Genz von der Schneeeule.“
Über die Jahre hat Oli Lemke unendlich viele Sude angesetzt, mit dem Ziel, die für ihn perfekte Berliner Weisse zu brauen. „Die Zusammensetzung wirkt auf den ersten Blick gar nicht so kompliziert: Gersten- und Weizenmalz, wenig Hopfen, Hefe! Doch ausgerechnet die oft so sehr unterschätzte Hefe macht in der Berliner Weissen den Unterschied“, erklärt Lemke. Auch er nutzt für sein Wildes Bier obergärige Hefe, „Brett“ und Milchsäurebakterien.
Neben der Zusammensetzung der Hefen und Bakterien ist bei der Berliner Weissen aber in erster Linie die jeweilige Konzentration von Hefe und Milchsäurebakterien die große Herausforderung. Schon kleine Änderungen können den Geschmack entscheidend verändern. Die Flaschengärung macht auch die Berliner Weisse sehr lange haltbar.
Warum Wilde Biere im Sommer besonders gut schmecken
Die Art der Herstellung von Wilden Bieren bietet eine viel größere Vielfalt an Aromen. Durch die Flaschengärung nehmen Wilde Biere häufig eine champagnerartige Struktur an und eignen sich hervorragend als Aperitif. Es gibt die unterschiedlichsten Möglichkeiten Wilde Biere herzustellen und mit den Konzentrationen und Zusammensetzungen zu spielen. Das hat dazu geführt, dass es Wilde Biere inzwischen aus allen Teilen der Welt gibt: von Berlin über das Münsterland und Belgien, bis in die USA.
Empfohlene Wilde Biere:
- Dubbel Porse: Grutbier aus der Brauerei Kemker und der Gruthaus-Brauerei, Lienen
- Budike Weisse: Berliner Weisse aus der Brauerei Lemke, Berlin
- Marlene: Berliner Weisse von Schneeeule, Berlin
- Cantillon Gueuze (Cuvée St. Gilloises. Iris.): Gueuze von Cantillon, Anderlecht
- 3 Fonteinen Oude Kriek: Oude Kriek von 3 Fonteinen, Lot