Klar, Aljoscha Taukel kennt die alten Geschichten. Dass der Seeräuber Störtebeker nach seiner Enthauptung noch 50 Meter ohne Kopf gelaufen sei, weil man ihm versprochen habe, jeden seiner Männer, an dem er nach der Hinrichtung noch vorbeigehen kann, zu verschonen, zum Beispiel. „Die Enthauptung war in der Nähe des Orts, an dem heute die Elbphilharmonie steht. Da ist auch ein Denkmal. Störtebeker ist so etwas wie der Robin Hood des Nordens“, erklärt Aljoscha. Eine sagenhafte Heldengestalt, der unter anderem bei den jährlichen Störtebeker Festspielen auf Rügen gehuldigt wird. Auf dem Festland gegenüber der Insel, in Stralsund, arbeitet Aljoscha für die Brauerei, die den Namen des Freibeuters trägt.
„Das Bier der Gerechten“ wurde das Produkt der Brauerei lange genannt. 2011 habe man sich bewusst entschieden, „das Piratending“ aus dem Marketing zu streichen. „Wir sind weggegangenen von Folkloresachen“, sagt Aljoscha, der im Marketingteam der Brauerei arbeitet. Braumanufaktur nennt sich das Unternehmen seitdem. Statt wilder Piratenabenteuer erzählt die Brauerei seitdem Geschichten über Bier. „Wir erklären das Bier“, sagt Aljoscha. Das heißt unter anderem: Es gibt für die Kundschaft Informationen zur optimalen Trinktemperatur, zum besten Foodpairing, zu dem, was im Bier drin ist.
In einem Zwei-Tages-Kurs bildet die Brauerei Störtebeker-Bierbotschafter aus. Das sind Wirte und Gastronomiemitarbeiter ebenso wie Beschäftigte des eigenen Unternehmens und nun auch verstärkt Supermarkt-Angestellte. Um die Biere im Handel auch ohne geschultes Personal besser erklären zu können, arbeitet die Brauerei an einer Technik, die bei der Auswahl hilft: Eine App auf dem Smartphone und interaktive Bildschirme in Läden sollen durch Fragen an die Kundinnen und Kunden helfen, das beste Bier für deren Geschmack zu finden.
Der Strategiewechsel vor gut zehn Jahren hat der Stralsunder Brauerei, die seit fast 130 Jahren am Stadtrand braut, nicht geschadet. Im Gegenteil: Die Brauerei wurde gerade erst durch eine neue große Halle erweitert. Während andere Brauereien während der Pandemie gelitten haben, hat Störtebeker „Corona nicht geschadet“, wie Aljoscha es formuliert. Im Gegenteil: „Wir hatten 6 bis 7 Prozent Wachstum. Die Touristen blieben zwar weg, aber viele Menschen haben sich für zuhause eine Kiste gekauft.“ Und das sicher nicht nur, weil die Kunststoffkiste in Holzoptik im Supermarkt auffällt.
Pils und Weizen sind die meistverkauften Sorten. Auf Platz drei folgt das Atlantik-Ale, ein helles obergäriges Bier. Es sei „eigentlich das einzige Ale, das wirklich erfolgreich auf dem Markt ist“, sagt Aljoscha. Störtebeker hat ein breites Sortiment aufgebaut, das vom Alkoholfreien über Wit und Roggenweizen bis zu Schwarzbier und Porter reicht. Für die Fassgelagerten Biere arbeitet die Brauerei mit BRLO in Berlin zusammen. Das Bier wird dorthin gebracht und in Holzfässer gefüllt. Nach der Lagerung in Berlin wird auch das Hochprozentige in Halbliterflaschen abgefüllt. Das ist die Störtebeker-Standardflasche. Die Abfüllanlage für die 0,33-Liter-Flschen sei selten in Betrieb.
Jedes Jahr kommen ein bis zwei neue Sorten dazu. „Die Fans warten auf die Biere“, weiß Aljoscha. Wobei die inzwischen auf ganz Deutschland verteilt sind. Eins der neusten Produkte ist ein Lager. Nordisch-Hell nennt die Brauerei das Bier. In Bayern, vermutet Aljoscha, gehe es aber womöglich als Pils durch, weil es bitterer schmeckt als die Hellen im Süden. Als regionales Bier hat Störtebeker weiter das Stralsunder Pils im Angebot. Das wird als Traditionsmarke im Umkreis von etwa 50 Kilometern ausgeliefert. Bald gibt es dieses Bier als Bio-Pils bundesweit. Die Idee gehe auf die Nachfrage einer Biomarktkette zurück, erklärt Aljoscha. Ins Ausland liefert Störtebeker zurzeit recht wenig. „Schweden, etwas Schweiz. Der Export muss aber für uns ein Thema sein. Naheliegend ist das Baltikum“, sagt der Marketing-Mann.
„Es ist oft Bio, ohne dass wir nach Bio schreien.“
Aljoscha Taukel, Störtebeker
Eine neue Halle, bundesweite Auslieferung – ist da der Begriff „Braumanufaktur“ nicht albern, ja sogar irreführend? „Wir schauen nach der Qualität bei den Produkten. Es ist oft Bio, ohne dass wir nach Bio schreien“, verteidigt Aljoscha den Begriff. Manufaktur bedeutet auch: 20 Hopfensorten, fast ebenso viele Malze, während Großbrauereien auch mal mit höchstens einem Viertel davon auskommen. Man müsse immer viele Rohstoffe vorrätig haben, auch weil man die nicht ganz so erfolgreichen Biere recht oft braue, sie aber verfügbar sein müssen – unter anderem weil es Kombikisten gibt. Der Rohstoffeinsatz sei hoch. „Man wird es kaum glauben, aber das Helle hat einen höheren Materialeinsatz als das Atlantik Ale“, versichert Aljoscha. Wichtig sei auch: „Wir sind kein Aktionsbier. Die, die uns kaufen, kaufen uns aus Überzeugung. Die meisten unserer Kunden sagen: ,Ich kaufe das Bier des Geschmacks, nicht des Preises wegen'“.
Störtebeker kann, was die Vielfalt und die Qualität seiner Biere angeht, selbstbewusst auftreten. „Wir versuchen uns aber nicht als Nabel der Bierwelt zu sehen“, sagt Aljoscha. Bierwissen zu vermitteln, heißt nicht, nur übers eigene Bier zu reden. An jedem ersten Donnerstag im Monat gibt es in der Brauerei einen Abend mit einem Biersommelier. Der hat neben den Störtebeker-Bieren immer auch mindestens zwei andere im Angebot. „Wer Hoegaarden probiert, kommt vielleicht auch zu unserem Wit“, erklärt Aljoscha. Wie viele den Schritt vom international vermarkteten flämischen Wit zum Stralsunder Mitsommer-Wit schaffen, kann man natürlich nicht sagen, aber bei Störtebeker ist man sich sicher, dass es sich lohnt, für Biervielfalt über die eigene Marke hinaus zu werben.
Eine Gruppe von Bierfreundinnen und Bierfreunden, die man nicht mehr begeistern muss, trifft sich einmal im Jahr in der Brauerei: Jeweils am 2. September-Wochenende findet dort die deutsche Meisterschaft der Hobbybrauer statt. Ein Bierstil wird in diesem Wettbewerb vorgegeben, dazu kann ein Kreativbier nach Wahl präsentiert werden, erklärt Aljoscha die Regeln. Seine Erfahrung: „Das ist manchmal kurios, aber selten schlecht.“ Er erinnert sich an ein Bier, das sich Marge-Simpson-Bock nannte. In Anlehnung an die Cartoon-Figur mit der gelben Gesichtsfarbe und den blauen Haaren hatte das Bier einen blauen Schaum. Das habe Spaß gemacht, aber sei eben nur ein Gag für den Moment gewesen.
Manchmal kommt aber auch mehr heraus, wenn sich die Wege von Hobby- und Profibrauern bei Störtebeker kreuzen. „Unser Pazifik Ale ist aus dem Hobbybrauer-Wettbewerb heraus entstanden. Das ist damals als Brut IPA hier gut angekommen“, erzählt Aljoscha. Das Pazifik-Ale ist ein IPA mit hellen Gersten- und Weizen-Malzen sowie Comet-, Mosaic-, Citra- und Topaz-Hopfen von drei Kontinenten.
Dass Störtebeker auf Biervielfalt setzt, wird auch in Hamburg anerkannt. Als die Gastronomie in der Elbphilharmonie ausgeschrieben wurde, hat die Stralsunder Brauerei ein Konzept mit vielen Bieren eingereicht. „Das hat damals keine Hamburger Brauerei geschafft – die Bewerbung war recht früh, es hat ja mit dem Bau dann etwas gedauert“, sagt Aljoscha. Störtebeker hat den Zuschlag bekommen. Und so ist Störtebeker Bier in Hamburg in der Nähe des Orts präsent, an dem der Freibeuter Störtebeker nach seiner Enthauptung angeblich noch 50 Meter ohne Kopf gelaufen ist. Aber das sei nur am Rande erwähnt, sagt Aljoscha. Von den wilden Seeräubergeschichten hat man sich ja verabschiedet.
(6. Juli 2023)