Dipl. Braumeister Günther Thömmes braut in seiner „Bierzauberei“ Biere mit Langpfeffer und Paradieskorn, Koriander und Haferflocken. Keine Frage also: Das deutsche Reinheitsgebot lässt den Brauer in Österreich ziemlich kalt. Dennoch macht er sich zum Reinheitsgebot Jubilaeum ein paar tiefgehende Gedanken dazu.
Am 23.4.2016 jährt sich zum 500. Male der Tag, an dem während des Ständetags zu Ingolstadt die beiden damals Bayern gemeinsam regierenden Herzöge, Wilhelm IV. und sein jüngerer Bruder Ludwig X., die später als „Reinheitsgebot“ bekannt gewordene Verordnung erlassen haben. Ein willkommener Anlass, um einmal zurück zu schauen auf deren wechselvolle Geschichte und ihrer Interpretationen.
Nachdem die Hoffnungen der Brauerbünde (des Deutschen wie auch des Bayerischen) auf Anerkennung des Reinheitsgebotes als immaterielles UNESCO-Weltkulturerbe kürzlich einen herben Dämpfer erlitten haben, wollen wir einmal gemeinsam einen Blick hinter die Kulissen des Reinheitsgebotes werfen. Denn das Reinheitsgebot offenbart sich uns in mindestens DREI Spielarten:
- Da ist zum einen der offizielle Text dieser Verordnung, dessen Beginn jeder Brauer und Bierfan wohl im Schlaf aufsagen kann: „Wie das Bier im Sommer und Winter auf dem Land ausgeschenkt und gebraut werden soll“.
- Zum Anderen gibt es dann die Version des Reinheitsgebotes, die uns Konsumenten von den Brauerbünden als Vision angeboten bzw. verkauft wird.
- Und Drittens, das Reinheitsgebot, wie es heutzutage in der Praxis umgesetzt wird.
Unglücklicher Weise haben die drei Versionen so gut wie überhaupt nichts miteinander zu tun. Und die ersten Beiden mit der Realität noch weniger. Aber schön der Reihe nach: Warum sollte es drei Versionen geben und warum sollten diese nichts miteinander zu tun haben?
Einmal ganz zurück zu den Anfängen
Schauen wir uns doch mal das Original von 1516 an, welches uns so oft und gerne als offizielles Reinheitsgebot verkauft wird. Das Jahr 1516 liegt genau an der Schnittstelle zwischen Mittelalter und Neuzeit, sprich: Renaissance. Im Hochmittelalter entwickelte sich die Trennung der einzelnen Getreidearten für die jeweilige Nutzung. „Weizen fürs Brot, Gerste fürs Bier, Hafer für die Pferde“ war ein gängiger Spruch. Den dann nur die Obrigkeit – siehe die Wittelsbacher, außer Kraft setzen konnte.
Und ab dem Hochmittelalter finden sich auch die meisten Abschriften früher Reinheitsgebote, besonders aus Bayern: 1156 Augsburg, 1393 Nürnberg, 1434 Weißensee/Thüringen, 1447 Regensburg, 1363 München, 1493 Landshut und 1516 Ingolstadt. Diese bezeugen eindeutig, dass es nicht um reines Bier ging. Mal ging es um Nutzung minderwertigen Getreides, da das gute zum Brotbacken gebraucht wurde, mal um die Stellung der Zünfte zueinander und manchmal schlichtweg nur ums liebe Geld. Und die Ingolstädter Verordnung war somit kein singuläres Gebot, wie uns die Brauerbünde oftmals weismachen wollen, sondern steht in einer Reihe mit vielen anderen, ähnlichen Gesetzen, vorher und nachher. Die Tatsache, dass im Originaltext weder Hefe noch Weizen erwähnt sind, nicht einmal Malz – nur Gerste (!), macht aus ihm eine nett anzuschauende Urkunde, eine historische Anekdote ohne jegliche heutige Relevanz.
Die Verkaufs-Version
Die zweite Version des Reinheitsgebotes, das ist die, die uns Konsumenten von den Brauerbünden als Vision angeboten bzw. verkauft wird. Hierzu einige Schlagworte von der Website des Bayerischen Brauerbunds: “…über 450-jährige unveränderte Gültigkeit des Bayerischen Reinheitsgebotes…“, „…vor billigen Imitaten…schützen…“, „Es stellt die weltweit älteste bis heute gültige lebensmittelrechtliche Bestimmung dar“, „Selbst in Zeiten größter Not wie während und kurz nach den Weltkriegen haben Bayerns Brauer diese Grundsätze nie verletzt“.
Wie bereits weiter oben angeführt, weist der Originaltext von 1516 erhebliche Unterschiede zum heutigen Text auf. Also von einer über 450-jährigen Gültigkeit zu sprechen, erscheint in diesem Zusammenhang nur lachhaft. Zudem gibt es keinen Beweis, dass in den über 350 Jahren von der Entstehung des Originaltextes bis zur landesweiten Einführung zu Ende des 19. Jahrhunderts das Gebot in Bayern befolgt wurde. Ganz im Gegenteil: In jedem Fachbuch, dass mir bekannt ist, gleich ob aus Bayern stammend oder nicht, wimmelt es von Rezepten für Kräuterbiere, Kartoffelbiere und andere Köstlichkeiten. Das Wort „Reinheitsgebot“ sucht man hingegen in allen Fachbüchern vor 1870 vergebens.
Es erscheint nicht glaubhaft, dass in Notzeiten wie dem 30-jährigen Krieg gerade die bayerischen Brauer schön brav ein Gebot gefolgt haben sollen, welche ihnen sicher gar nicht bekannt war. Das legendäre Tagebuch des Münchner Brauers Gabriel Sedlymayr, gut 200 Jahre später, enthält Hinweise auf gar nicht artgerechte Behandlung von schlecht gewordenen Bieren, z.B. mit Aktivkohle und anderen „streng verbotenen“ Mittelchen. Er hatte in England offensichtlich etwas gelernt. Und gerade die Angst vor den, im Biergeschäft übermächtigen Engländern, war es wohl, die dem Reinheitsgebot zwischen 1871 und 1906 zum reichsweiten Gesetz werden ließ. Zum Glück war irgendeinem, heute unbekannten Helden, dieses Gebot wieder eingefallen. Der Name „Reinheitsgebot“ ist zudem ein Produkt der 1950er Jahre, als die Bierwerbung erstmals griffige Umschreibungen brauchte, um mehr Bier unters Volk zu bringen. Und der angebliche „Schutz vor billigen Imitaten“ ist ein Offenbarungseid vor der Angst, international nicht konkurrenzfähig zu sein. Dass die Brauerbünde jeden Weg abseits des Reinheitsgebotes immer gleich mit „Chemie im Bier“ gleichsetzen, zeigt deutlich die Geisteshaltung, die dahinter steht. Man möchte sich mit anderen Bieren, z.B. althergebrachten, historischen Rezepten – vielleicht mit Kräutern (?), anderen Bierstilen – wie Sauerbieren, oder einfach kreativen Neuschöpfungen nicht auseinandersetzen. Ganz gleich, wie sauber und „chemielos“ diese ansonsten gebraut werden.
Damit hat die Diskussion über das Reinheitsgebot von Seiten der Brauerbünde eine ideologische Ebene erreicht, die rational nicht mehr zu widerlegen ist. Verbissen, engstirnig und mit humorlosem Pathos werden die Pfründe verteidigt. Gegner als Idioten oder Schwachköpfe abqualifiziert.
Apropos „Gegner“: Ich kenne keinen Bierfreund oder Brauer, der das Reinheitsgebot abschaffen möchte. Ich sehe auch mich nicht als Gegner des Reinheitsgebotes, sondern als Kritiker der aktuellen Praxis.
Das ganz praktische Reinheitsgebot
Womit wir bei der dritten Version wären: Das Reinheitsgebot, wie es heutzutage in der Praxis umgesetzt wird. Oh ja, und hier wird es spannend. Beginnend mit dem Namen. Denn das Kind heißt offiziell: „§ 9 der Bekanntmachung der Neufassung des Vorläufigen Biergesetzes vom 29. Juli 1993“. Klingt nicht gut, oder? Mit folgenden Stichworten kann man sich dann in den Gesetzestext einarbeiten:
„Anderes Getreide als Gerste“, „Klärmittel“ – wie z.B. Polyvinylpolypyrrolidon (PVPP), „Rüben-, Rohr- oder Invertzucker“, „Milchsäure“. Ja, es ist alles möglich, in gewissem Rahmen, für gewisse Ausnahmen, mit gewissen Genehmigungen, oder wenn es, wie die Milchsäure, echte Vorteile für den Brauer birgt. Aber, offen und ehrlich sieht anders aus…
Was das Dilemma zusätzlich vergrößert: Alle drei hier geschilderten Versionen des Reinheitsgebotes haben mit der Begründung, die der Bayerische Brauer Bund der UNESCO geliefert hat, warum dem Reinheitsgebot der Status eines Weltkulturerbes zuerkannt werden sollte, noch weniger zu schaffen.
„Wenn Deutschland bis heute unangefochten als Biernation gilt, dann ist dies dem Reinheitsgebot zu verdanken. Es garantiert Reinheit, Qualität und Bekömmlichkeit der nach dieser Vorgabe hergestellten Biere. Über Jahrhunderte wurde diese traditionelle Handwerkstechnik fortentwickelt und von Generation zu Generation weitergegeben. Ungeachtet ihrer jahrhundertealten Tradition steht die Bierbereitung nach dem Reinheitsgebot bis heute für größtmögliche Transparenz bei der Produktion von Lebensmitteln und für ein Höchstmaß an Gesundheits- und Verbraucherschutz. Das Reinheitsgebot garantiert einen Grad an Lebensmittelsicherheit, um den viele andere Bereiche der Nahrungsmittelwirtschaft die deutschen Brauer beneiden. Die Aufnahme des fast 500 Jahre alten Reinheitsgebotes für Bier als traditionelle Handwerkstechnik in das Verzeichnis des Weltkulturerbes wäre für die deutschen Brauer und Mälzer Würdigung und Ansporn zugleich.“ So die Bewerbung im Dezember 2013.
Diese Begründung ist hanebüchen, denn was hat traditionelle Handwerkstechnik, so lobenswert sie ist, mit dem Reinheitsgebot zu tun? Eigentlich überhaupt nichts!
Denn in jedem Fall bezieht sich das Reinheitsgebot ausschließlich auf die zu verwendenden Rohstoffe. Keine Technik, kein Brauvorgang, keine wie auch immer geartete handwerkliche Fähigkeit wird im Reinheitsgebot, aktuell oder in der Historie, erwähnt. Und Transparenz, nun ja, siehe weiter oben…
Und es wurde auch von der UNESCO-Kommission entsprechend gewürdigt:
„Das Bierbrauen nach dem Reinheitsgebot wurde in der dem Komitee vorliegenden Bewerbung leider nicht überzeugend dargestellt. Hier stand die Lebensmittelvorschrift zu sehr im Vordergrund. Wir hatten auch den Eindruck, dass die Bierproduktion inzwischen sehr industriell geprägt ist. Der Mensch als Wissensträger der Brautradition scheint zunehmend eine nachrangige Rolle zu spielen.“
Dem ist eigentlich nichts hinzu zu fügen. Wünsche einen schönen 499. Geburtstag!
Cheers!
Copyright Günther Thömmes, April 2015 – Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung.