In Deutschland klagen Brauer und ihr Verband darüber, dass weniger Bier verkauft wird. Craft Beer wird von vielen in der Getränkebranche als Nischenprodukt mit kaum noch messbaren Verkaufszahlen abgeschrieben. In den USA ist das anders. Craft Beer war dort immer wieder mal in der Verkaufskrise, aber zurzeit feiern die Craft Brewer wieder Erfolge.
Joe Correia und John Dantzler hatten nicht die Absicht, eine Brauerei zu eröffnen. Nicht einmal nach diesem Abend, an dem einiges ziemlich dumm gelaufen war. Die Geschichte, die dazu führte, dass die beiden heute eine erfolgreiche Craft Brewery in Manhattan betreiben, beginnt nicht mit einem Plan. Sie entwickelte sich aus der Lust auf Bier – und aus Notwehr. Eines Nachts, so lautet die Legende zur Entstehung der Torch & Crown Brewing Company, als die beiden 16 Jahre alt waren und noch keinen Alkohol trinken durften, wurden die Jungs in einer Bar im East Village mit gefälschten Ausweisen erwischt. Das gab Ärger, aber vor allem bedeutet es: kein Bier mehr.
Da sie keine Möglichkeit mehr hatten, Bier zu kaufen, beschlossen Joe Correia und John Dantzler, selbst welches zu brauen. Die erste Charge wollten sie mit einem Homebrew-Kit herstellen. Offenbar hatten sie aber die Gebrauchsanleitung nicht richtig gelesen. Als Johns Mutter nach Hause kam, war die Maische in der ganzen Küche verteilt. Das gab wieder Ärger – und eine Woche Hausarrest. Entmutigen ließen sich die beiden nicht. Und mit der Übung kam der Erfolg: einige aus heutiger Sicht unbedeutende Homebrewer-Preise. Joe und John mussten allerdings ihre Väter schicken, um sie anzunehmen, weil sie offiziell immer noch keinen Alkohol trinken durften.
Auf einer Reise nach Irland beschlossen die beiden jungen Amerikaner dann offiziell „bei einem Toast mit einem Glas Guinness“, wie es in der Firmengeschichte heißt, dass sie eines Tages ihre eigene Brauerei eröffnen und darin ihre Liebe zu drei Dingen bündeln würden: großartiges Bier, ambitionierte Kreationen und New York. Wobei ihnen klar gewesen sei, dass „keiner wusste, was zum Teufel wir taten“. Um zu wissen, was sie tun, teilten sie sich die Arbeit: Joe studierte Chemie und ging in die Brauwelt, John entschied sich für die Finanzbranche, in der Hoffnung, die ganze geschäftliche Seite hinzukriegen. Nach zehn Jahren, vielen weiteren Suden und auch einigen Misserfolgen wurde 2018 die Torch & Crown Brewing Company gegründet.
Deren Symbol ist eine Hopfendolde, die wie die Flamme auf einer antiken Fackel strahlt und auf Bierliebhaber offenbar wie ein Leuchtturm wirkt. Die Brauerei mit großer Gaststätte im Industrial Style an Rande von New Yorks Finanzdistrikt brummt. Corona hat die Party zwar kurz unterbrochen, aber sie scheint nun wilder denn je gefeiert zu werden – im Herbst bei Torch & Crown wie in vielen amerikanischen Braugaststätten als Oktoberfest mit weiß-blauen Wimpeln.
Die Geschichte von Joe Correia und John Dantzler ähnelt der Geschichte der amerikanischen Craft-Beer-Bewegung. Amerikanisches Bier, das war, zumindest aus europäischer Sicht, lange Wasser plus X. Bis Präsident Jimmy Carter 1978 das Bierbrauen zu Hause legalisierte und damit eine Bewegung auslöste. Aus Notwehr gegen das langweilige Einheitsbier begannen Männer und Frauen – und sicher auch damals schon Mädels und Jungs, die nicht volljährig waren – in Garagen und Scheunen Bier zu brauen. Daraus entstanden kleine handwerkliche Brauereien, Craft Breweries, die klassische europäische Bierstile nachbrauten und variierten, die aber auch das India Pale Ale neu entdeckten und diese Hopfenbombe populär machten. Aus einigen dieser Klein-Brauereien wurden Unternehmen, die heute US-, teilweise weltweit Bier verkaufen.
Eine davon liegt etwa sieben Kilometer von Torch & Crown entfernt auf der anderen Seite des East River: die Brooklyn Brewery. Auch ihre Wurzeln liegen im Homebrewing. Auch bei ihrer Gründung 1988, also 30 Jahre, bevor Joe Correia und John Dantzler dieses Abenteuer wagten, haben sich zwei Männer die Arbeit geteilt. Steve Hindy war Auslandskorrespondent der Nachrichtenagentur AP, lernte das Bierbrauen während eines sechsjährigen Aufenthalts in verschiedenen Ländern des Nahen Ostens, also dort, wo man legal nicht an Alkohol kommt. Nach seiner Rückkehr kündigten er und sein Nachbar Tom Potter ihre Jobs und gründeten die Brauerei. Potter war bis dahin leitender Angestellter bei der Chemical Bank.
Auch im Taproom der Brauerei im Brooklyner Stadtteil Williamsburg herrscht Partystimmung unter weiß-blauen Fähnchen. Neben den Sauerbieren, den IPAs, dem Lager wird „Oktoberfest-Märzen“ gezapft. Gefeiert wird aber nicht nur in den Gaststuben, sondern auch in den Chefetagen der meisten Craft Breweries. „Der Gesamtabsatz von Bier in den USA stieg im Jahr 2021 um ein Prozent, während der Absatz von Craft-Brauereien um acht Prozent anstieg, wodurch der Anteil kleiner und unabhängiger Brauer am US-Biermarkt nach Volumen auf 13,1 Prozent anstieg“, frohlockt die Brewers Association, der Dachverband der Craft Brewer. Rechnet man in Dollar und nicht in Flüssigunzen, dann ist das Ergebnis des vergangenen Jahres noch berauschender. Der Umsatz mit Craft Beer stieg um 21 Prozent auf 26,8 Milliarden US-Dollar und macht nun knapp 27 Prozent des 100-Milliarden-Dollar-Biermarktes in den USA aus, rechnet die Brewers Association vor. Den Hauptgrund dafür sieht der Verband in der „Rückverlagerung des Biervolumens in Bars und Restaurants“, also vom Einzelhandel an den Zapfhahn.
Dass in Deutschland derweil über einen Rückgang der Bier-Hektoliterzahlen geklagt wird, mag auch daran liegen, dass es hierzulande nicht so viele Zapfhähne gibt. Eine amerikanische Kneipe, die etwas auf sich hält, hat eine ganze Reihe von Hähnen, aus denen Bier für jeden Geschmack fließt. Ausgewiesene Bierkneipen – und die sind keine Seltenheit – bieten 20 bis 30 Biere vom Fass und Kühlschränke voller Flaschenbier. Das sei „ganz normal“, sagt Jalyn Souchek. Sie ist PR-Managerin im Tourismusbüro der Stadt Memphis und mag vor allem Bier im belgischen Stil, aber auch Sauerbier und IPA. Eine große Beer-Community gibt es in Memphis, sagt die junge Frau, und elf Brauereien. Die älteste davon ist die Ghost River Brewing Co. direkt im Stadtzentrum.
Bob Keskey, ein grauhaariger Mann im blauen Trikot der Grizzlies, der Profi-Basketballmannschaft, deren Arena sich direkt hinter der Brauerei erhebt, hat die Brauerei 2007 gegründet. „Etwas außerhalb von Memphis dehnt sich der Wolf River zu einer breiten Öffnung aus. Während es an der Oberfläche ruhig ist, wird darunter eine verborgene Strömung erzeugt. Dieses bescheidene, aber mächtige Gewässer ist der Ghost River. Es liefert unser Grundwasser, Erholung für unsere Familien und den Namen für unsere Brauerei“, erklärt Bob die Wahl des Brauereinamens. Zwölf eigene Biere lässt er zapfen, darunter Honig-Weizen, ein belgisches Saison und natürlich ein Oktoberfestbier, schließlich ist ja Herbst. Besonders stolz ist er dabei auf ein sechs Monate im Bourbonfass gelagertes Ale. Bei Craft Beer gehe es um Gemeinschaft, „gutes Bier für die guten Menschen in Memphis“, will er deshalb machen, sagt Bob. Er klingt dabei fast wie der Journalist Hunter S. Thompson, der einen Teil seines amerikanischen Selbstverständnisses so formuliert hat: „Good people drink good beer.“
Auch Jeff findet, dass das Bier-Angebot viel über einen Ort aussagt. Jeff ist Anfang 40 und sitzt etwa 350 Kilometer entfernt vom Ghost River auf einer Bank gegenüber der Arena im Zentrum von Nashville. Auf seiner Kappe zeigt derselbe Säbelzahntiger sein Gebiss wie auf der Wand gegenüber. Das Raubtier ist das Symbol der örtlichen Profi-Eishockeymannschaft, der Nashville Predators. „Nashville ist eine gute Stadt, weil es hier viel local beer gibt“, erklärt Jeff. 24 Craft Breweries listet die Brewers Association für die Hauptstadt des Bundesstaats Tennessee auf. Die meisten Touristen kommen allerdings weder wegen Bier noch wegen Eishockey, sondern wegen der Musik, die den ganzen Tag in den Kneipen gespielt wird, wegen der Country Music Hall of Fame und wegen des Johnny-Cash-Museums. Aber, sagt er, „Bier und Musik passen ja gut zusammen – und vielleicht sind die Leute ja deshalb so cool hier“.
Die in der Tailgate Brewery auf jeden Fall. Der Taproom hat den Charme eines Jugendzentrums. Darth Vader erhebt auf einem Gemälde ein Glas der Brauerei, während ein junger Mann in Strandlatschen sich aus dem Kühlschrank ein paar Peanutbutter-Milk-Stouts für zuhause mitnimmt. Was wirkt wie ein Versuch, ist ein Unternehmen, das unter anderem im internationalen Flughafen von Nashville eine kleine Bar betreibt. Craft Beer ist Leidenschaft, ist Experimentierfreude, ist Mut zur Veränderung, aber eben auch ein Geschäft.
Ein Geschäft, das in Deutschland nicht zu funktionieren scheint – oder einfach nicht verstanden wird. Das liegt vermutlich auch an dem Begriff „Craft Beer“. „Ein amerikanischer Craft Brewer ist ein kleiner und unabhängiger Brauer“, definiert die Brewers Association. Wobei klein bedeutet, dass die jährliche Produktion nicht höher als sechs Millionen Barrel sein darf. Das sind 950 Millionen Liter, also 9,5 Millionen Hektoliter. Zum Vergleich: 2021 betrug der gesamte Ausstoß der Bitburger-Brauerei nur etwas mehr als 5,7 Millionen Hektoliter.
Unabhängig bedeutet, dass sich weniger als 25 Prozent der Craft Brewery im Besitz oder unter der Kontrolle eines Konzerns befinden müssen. Das ist einer der Gründe, warum zum Beispiel die Brooklyn Brewery im Oktober 2016 zwar einen Teil des Unternehmens an die japanische Kirin-Gruppe verkauf hat, diesen Anteil aber bei 24,5 Prozent belassen hat: ein halbes Prozent mehr und man wäre den Status einer Craft Brewery losgewesen.
Wenn also der Anteil von Craft Beer im deutschen Markt mit einem Hundertstel dessen bemessen wird, was in den USA erzielt wird, dann ist das nicht nur, aber auch eine Frage von Begriffs-Bestimmungen. Das amerikanische „Craft Beer ist Gemeinschaft“ und das deutsche und österreichische „Bier ist Heimat“ liegen jedenfalls nicht weit auseinander. Die Herangehensweise allerdings schon. In amerikanischen Bier-Kneipen kommt das an den Hahn, was die Kunden mögen. Das bedeutet Vielfalt. Nur eine oder zwei Biersorten in einer Kneipe, das ist undenkbar. In vielen Hotelbars werden mindestens fünf bis sechs Biere vom Fass angeboten, meistens lokale Biere, denn die Produkte der großen Konzerne können die Gäste ja auch zuhause trinken.
Und wer eine Kneipe betritt, die sich explizit als Bierlokal bezeichnet, der erwartet deutlich mehr. Die Reihe mit den Zapfhähnen ist zum Beispiel im Taphouse in Ybor City, einem Stadtviertel von Tampa/Florida, so lange wie der Tresen. 65 Biere gibt es vom Fass, weitere 100 Sorten aus der Flasche. Für amerikanische Städte sind solche Orte Standard. 23 Craft Breweries listet die Brewers Association für die 400.000-Einwohner-Stadt auf. Eine davon, die Cigar City Brewery, liefert ihr Bier in Dosen auch nach Deutschland und Österreich. Einige der Brauer haben ihr Handwerk in Europa gelernt. Ihr Brauer sei auch in Deutschland gewesen, sagt etwas die Kellnerin im Restaurant des Zydeco Brew Werks. Das zeigt sich auch beim Blick auf die Bier-Liste: ein German Lager, ein German Pilsner, ein German style Kölsch, ein German style Helles, ein Oktoberfest Märzen – jeweils sehr eigenwillig, aber faszinierend interpretiert.
Ein paar hundert Meter weiter, am Rand der hippen Ybor City mit ihren alten Backsteingebäuden aus der Zeit vor gut 100 Jahren, als Tampa noch ein bedeutender Zigarrenfabrik-Standort war, huldigt man in einem schlichten Zweckbau an einer Hauptstraße direkt neben einer Tankstelle einer fast vergessenen Biernation: Ägypten. Die kleine Brauerei hat sich nach der in Gestalt einer Katze auftretenden Göttin Bastet benannt. „Bier war für die altägyptische Gesellschaft von großer Bedeutung und wurde als Grundgetränk von jedermann genossen, von den Reichen und den Armen, den Jungen und den Alten. Löhne für ägyptische Arbeiter wurden oft in Bier gezahlt und den ägyptischen Göttern wurden Bieropfer dargebracht. Einige alte Ägypter wurden mit Bier in ihren Gräbern begraben, damit sie es im Jenseits trinken konnten“, erzählen die Brauer. „Der Mund eines vollkommen zufriedenen Mannes ist mit Bier gefüllt“, zitieren die Brauer eine gut 4000 Jahre alte Inschrift.
Aber irgendwann war Schluss mit lustig. Die Menschen nahmen die göttlichen Gesetze nicht ernst und machten Witze über den Obergott Ra, heißt es im Geschichtsunterricht der Brauerei. Ra schickte seine Tochter Bastet auf die Erde, um dort mal aufzuräumen. Das habe die Göttin dann allerdings etwas zu gründlich getan. Es sei ein Gemetzel gewesen. Papa Ra habe befürchtet, dass seine Tochter die ganze Menschheit umbringt. Seine Anordnung zurückzukommen habe sie aber in ihrem Blutrausch ignoriert. Also, so lautet die Legende, ließ Ra 7000 Krüge Bier und Granatapfelsaft, der das Bier blutrot färbte, über die Felder gießen. Bastet schleckte das, was sie für Blut hielt, gierig auf und wurde so betrunken, dass sie drei Tage lang schlief und mit einem schrecklichen – kleiner Brauer-Scherz in Sachen Katzengöttin – Kater aufwachte. Das Gemetzel war zu Ende. Bier, so folgern die Leute von Bastet Brewing, hat die Menschheit gerettet.
Ob sie sich nun genau so zugetragen hat, diese Geschichte, oder nicht: Sie ist nicht die Einzige, die davon erzählt, dass Bier den Lauf der Dinge, ja die Welt verändern kann. Warum sollte es also nicht möglich sein, die Bier-Welt zu verändern – in Deutschland und in Österreich?